Freitag, 12. Juni 2015

Achten Sie auf die Heizungsgrenze

Achten Sie auf die Heizungsgrenze
Edith Kitzelmann

Die Kälte kriecht langsam in mir hoch. Sie macht mich zunehmend unbeweglicher. Zuerst ist die Veränderung an meinen Fußsohlen spürbar, verwandelt sie in zwei Flächen, deren Kälte sich ausbreitet, um nach und nach zehn Zehen mit einzuschließen. Ich spüre, wie sie alles bis zu den Knöcheln hinauf, unter ihren eiskalten Schutz nimmt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt sind meine Füße nur noch als Eisklumpen zu fühlen. Unaufhörlich bahnt sie sich ihren unheilvollen Weg meine Unterschenkel hinauf bis zu den Knien. Hier angekommen legt die Kältewelle eine Rast ein, als wolle sie verweilen, ein bißchen ausruhen, um neue Kraft zu schöpfen, um dann noch effektiver meinen Körper auskühlen zu können. Ich ziehe die Decke fester um mich. Mein linker Daumen fühlt sich taub an, blutleer und steif.
               Hier in diesem Teil des Landes gibt es weder Eis noch Schnee. Die Temperaturen fallen kaum unter 10°C. Die Luftfeuchtigkeit ist sehr hoch. Kleine Wölkchen meines warmen Atems vermischen sich mit der abgestandenen Luft im Zimmer. Ich wage nicht, ein Fenster zu öffnen, habe Angst noch mehr kalte Feuchtigkeit hinein zu lassen. Draußen regnet es, wie seit Tagen schon. Der Himmel zeigt sich tagsüber eisgrau, wolkenverhangen, die Nächte ohne Sterne, ohne Mond, mit einem diffusen Lichtschein um die hohen Bogenlampen auf der anderen Seite der Straße. Ich prüfe vorsichtig die Bettdecke, dort wo sie meinen Körper umschließt, auf undichte Stellen. Da ist kein Spalt zu ertasten, nichts, was darauf hindeutet, daß kalte, feuchte Raumluft darunter gelangen kann. Die äußere, zweite Decke liegt bunt und schwer und gerade auf der ersten, inneren unter der ich friere. Das Hotelzimmer hat keine Heizung. Langsam drehe ich mich unter den Decken zur Seite, reibe mit den Händen die Knie. Reibung verursacht Wärme. Ich bewege die Zehen, anspannen, loslassen, anspannen, loslassen, zähle bis zehn, ziehe meine Beine hoch, stecke sie wieder aus, ziehe sie hoch, so daß ich meine kalten Knie mit den Händen fest umfassen und sie an mich drücken kann.
               Wenn es doch schon Morgen wäre. Vielleicht würde die Wolkendecke aufreißen, der Regen nachlassen und ein Stückchen blauer Himmel mir sagen:
„Sieh mal, so könnte es sein.“
So ist es aber nicht. Am Abend, als der Regen nachgelassen hatte, war ich noch einmal in das große Restaurant gegangen. Es liegt direkt gegenüber dem Hotel, unmittelbar am Platz, da wo ich bis zum Meer schauen kann. Ich setzte mich allein auf der Terrasse an einen der großen runden Tische, die viel Platz für Familien bieten. In China setzt man sich nicht zu Fremden und kleine Tische gibt es in diesem Restaurant nicht. Ich hatte eine Schüssel dampfend heißer Nudelsuppe bestellt. Die Suppe sollte mich von innen wieder aufwärmen. Es ist ein herrliches Gefühl gewesen, aus dem kurzen, gebogenen Plastiklöffel die heiße Flüssigkeit zu schlürfen und die wohlige Wärme, die sich in mir ausbreitete, zu genießen. Die Portion reichte aus, um mich bis zu den Fußsohlen hinunter zu wärmen. Nach dem Essen lockerte ich meinen Schal ein wenig. Die blaue Daunensteppjacke ließ ich zugeknöpft. Die anderen Gäste saßen wie ich in dicker Winterkleidung hier draußen. Das Personal trug lange Steppmäntel und Stiefel über weiten Hosen. Der Sommer war fast vorbei. Man zog sicher schon eine lange Unterhose unter die Jeans. Die Menschen, die an weiß gedeckten Tische im Innenraum hinter weit geöffneten Fenstern Platz genommen hatten, waren genauso gekleidet. Ob drinnen oder draußen wir waren der Kälte ausgesetzt. Ich hatte es ausprobiert, es war egal, welchen Tisch ich wählte, der Wind der vom Südchinesischen Meer her wehte blies stetig vom Wasser kommend landeinwärts. Heute Abend war es mir wichtig gewesen, daß der Platz an dem ich saß, im Außenbereich war. Ich wollte über das Meer schauen. Nur von hier draußen hatte ich diesen unvergleichlichen Blick bis zum Horizont. Die See schimmerte bleigrau wie der Himmel. Ihre Wellen trugen schwer an schmutzig grauen Schaumkronen. Ein menschenleerer weißer Sandstrand zog sich wie ein breites, unregelmäßiges Band am Saum der Wellen entlang.

            Ich kann das stetige Rauschen der Wellen hören, obwohl ich mir das obere Ende der Decke halb über den Kopf gezogen habe. Die See schafft es trotzdem akustisch bis zu mir ins Zimmer.
Seit drei Tagen bin ich in Zhapoo auf der Insel Hailing südlich der Heizungsgrenze. Am Strand den feinen Sand wollte ich spüren, wie er sich beim Laufen durch die Lücken zwischen meinen Zehen quetscht, die Sonne Chinas auf meinen Armen fühlen. Ich will das Meer sehen, mich an seinen Weite berauschen. Ich will dem Klang seiner Wellen lauschen, sein Salz von meinen Lippen lecken, seine Luft atmen, den Geruch seines Wassers in mir forttragen.
            Einige Sehenswürdigkeiten des riesigen Landes habe ich besucht, bevor ich hier ankam, China für Fortgeschrittene. Die Schätze für König Zhao Mo, sein Jadekleid, das Grab von Nan Yue in Guangzhou, die Fracht der Dschunke Nanhai 1, im eigens dafür erbauten Museum. Nur auf die Grenze achtete ich weder bei meiner Planung, noch bei der Durchführung meiner Reise. Südlich des Yangzi gibt es keine Heizung. Es ist nicht erlaubt, mit Kohle zu heizen, andere Heizungen gibt es nicht. Die Angestellten hinter der Hotelrezeption frieren in ihren dicken Mänteln wie ich unter den zwei Decken in meinem Zimmer, in dem es nicht wärmer werden will. Sie sind wie ich in dieser kalten Nacht Gefangene hinter der Heizungsgrenze.




Die chinesische Melodie


Die chinesische Melodie
von
Edith Kitzelmann

Wir waren in China. Genauer gesagt auf dem Huangshan. In einer Gebirgsregion im Südosten Chinas, die genau so heißt wie ein Berggipfel. Es gibt in der Region Huangshan auch eine Stadt Huangshan, die in der gleichnamigen Landschaftszone Huangshan liegt. Das alles befindet sich im südlichen Teil der Provinz Anhui. Das ist auf den ersten Blick vielleicht etwas verwirrend, das mit dem Gebirgszug Huangshan, der auch „die gelben Berge“ genannt wird.

Gerade angekommen erkundeten wir die kleine Stadt Tankou, am Fuße des Berges Huangshan. Tankou platzte förmlich aus allen Nähten vor Touristen, chinesischer Touristen. Sie kamen in immer neuen, bis auf den letzten Platz gefüllten, Bussen hier an. Frühmorgens mit dem Sonnenaufgang setzte ihr nicht enden wollender Strom ein. Gegen Mittag waren endlich alle Reisegruppen auf dem Berg angekommen. Abends, wenn die Sonne die Nebel hinter den Bergen rot färbte, stiegen sie wieder in ihre, auf sie wartenden, Busse ein. Als letztes setzten sich die Reiseleiter mit ihren bunten Fähnchen und den Megafonen auf ihre Plätze. Danach kehrte wieder Ruhe ein, im Ort Tankou.
Am ersten Tag nach unserer Ankunft gingen wir abends essen und dann war ich nur noch müde. Es war eine lange Fahrt bis hierher gewesen. Am zweiten Tag gab ich uns mehr Zeit, um ein paar mal auf der Straße die am Hotel vorbeiführte, auf und ab zu gehen, zu schauen, den kleinen Ort zu erkunden. Am Morgen standen hier noch die Reisebusse. Der Parkplatz war direkt unter unserem Hotelzimmerfenster. Jetzt, am frühen Abend, stand dort nur ein einsamer Bus, ziemlich verlassen auf der großen, leeren, asphaltieren Fläche. Nur gegenüber „war noch was los“. Die Musik war selbst im Hotelzimmer noch sehr gut zu hören und der Grund gewesen, warum ich gestern Abend nicht hatte einschlafen können, obwohl ich von der langen Reise müde genug gewesen war.
Neugierig gingen wir dorthin, immer der Musik nach. Zwei Lautsprecherboxen, geschickt rechts und links vor der Eingangstür direkt auf dem Gehweg platziert, sorgten für die Beschallung der Straße. An ihnen kam niemand vorbei. Nicht ohne auf die Fahrbahn auszuweichen oder über die dünnen, grauen Kabel zu steigen, die sich quer über den Fußgängerweg spannten. Wir entschieden uns für die erste Variante. Überfahren zu werden war weniger wahrscheinlich, als im Dämmerlicht zu Fall zu kommen. Um diese Zeit kam kaum noch ein Auto oder ein Bus vorbei, höchstens ein Lastwagen. Die Motorräder hörten wir schon von weitem. Sie rasten laut knatternd vorüber. Fahrradfahrer auf Gehweg oder Straße retten sich und uns vor einem drohenden Zusammenprall mittels einer schwungvoll ausgeführten kühnen Kurve, für den Fall, daß wir nicht schnell genug zur Seite springen konnten. Die Straße erschien uns zum Laufen viel sicherer.

Wir gingen hinein. Der kleine Laden verkaufte so ziemlich alles. Lebensmittel, Elektroartikel, Schreibwaren, Hygieneartikel, CD’S, was man so braucht im Alltag und auf Reisen.
„Vielleicht haben sie das Lied?“ fragte ich mehr mich halblaut eher selbst als meinen Begleiter.
„Wir wissen doch gar nicht wie das heißt und wer es singt“.
Das war ja das Problem.
„Aber als ich vorhin unter der Dusche stand haben sie es gespielt“, wandte ich ein.
So schnell gab ich nicht auf.
„Ich singe die Melodie!“ triumphierte ich über alle Sprachschwierigkeiten hinweg.
Singen verbindet, ist weltweit erfolgreich und Sprache benötigt man dafür kaum. Es kam ja auf die Melodie an, nicht auf den Text. Das war die Lösung. Warum war ich nicht schon früher auf diese gute Idee gekommen?
Es handelte sich um eine einfache Melodie, die sich augenblicklich zu einem Ohrwurm entwickelte, hatte man sie nur einmal gehört. Was sollte da also so schwierig sein?
Wir hörten den chinesischen Schlager das erste mal in einer Show die wir am Westsee besuchten. Diese Mitternachtsshow begeisterte uns beide, auch wenn mir die Lautstärke der Aufführung fast einen Hörsturz breitet hätte.
Das Theater in Hangzhou entdeckten wir ganz überraschend an unserem ersten Abend am Westsee. Wir kamen zurück von einem wunderschönen Tag, Hand in Hand auf dem Weg ins Hotel Dong Po. Es war ohrenbetäubender Lärm, der uns aufhielt. Zuerst dachen wir an eine Diskothek, deren überlaute Musik aus einem der Hinterhöfe schallte. Vorsichtig von Neugier getrieben gingen wir durch die Toreinfahrt. Dahinter sahen wir eine offene Tür. Wir schoben uns langsam in den leicht abgedunkelten Raum. Auf einer hell erleuchteten Bühne verabschiedeten sich gerade Künstler in ausladende goldene Gewänder gekleidet von ihrem Publikum. Ich war erstaunt, eine solche Pracht in einem Hinterhaus in diesem unscheinbaren Hof zu sehen. Man winkte uns herein. Wie sahen,  dass die meisten der Zuschauer bereits gegangen waren. Ein junge Mann kam auf uns zu:
„ Kommt morgen“.
Er winkte uns mit zu kommen, führte uns durch den Saal, eine Treppe hinauf, einen Gang entlang. Bis wir schließlich draußen vor dem Haupteingang in der Parallelstraße standen. Überrascht schauten wir die Straße entlang. Das Theater lag ja doch nicht in einem Hinterhof. Von dieser Straße aus hatten wir das Gebäude am Morgen für ein Kino gehalten. Der Mann deutete auf ein Plakat, dass an der Hauswand hing.
„Kommt morgen.“
Gut ausgerüstet mit meinen gelben Ohrstöpsel, nahm ich im Parkett Platz, als eine zweistündige Trommelfellfolter begann. Ich wußte von Anfang an, wann die Show  zu Ende sein würde, etwas ungewöhnliches für eine Besucherin, die zum ersten mal die Show miterlebt. Doch ich kannte das letzte Bühnenbild. Die Show selbst war atemberaubend. Auf der Bühne gab es einen ständigen Wechsel von Sängern, Komödianten, Artisten. In wunderbaren, phantasievollen Kostümen schwebten sie über die Bühne, drängten sich durch die Reihen der Zuschauer. Sie tanzten, sangen, zogen sich an schweren, roten Samtvorhängen bis unter die Kuppel des Theatersaales hoch. Es war himmlisch und entführte uns in eine Zaubermärchenwelt. Das Publikum saß bei heißen und kalten Getränken vor exotischen Obsttellern riesigen Ausmaßes oder Chips, Poppkorn und Keksen. Jeder hatte vor sich in einer Tasche, die an der Rückenlehne des Vordersitzes angebracht war, zwei überdimensionale mit einem Scharnier verbundene Plastikhände, befestigt an einem langem Stiel. Meine waren grün, die meines Begleiters gelb. Man schlug sie laut klappernd gegeneinander, indem man den Stiel heftig hin und her bewegte, wann auch immer eine Darbietung zu Ende war.
Ein Sänger steht gerade auf der Bühne. Er ist jung, trägt Blue Jeans, hat eine blonde Kurzhaarfrisur, der er mit sehr viel Gel in die richtige Formwelle gezwungen hat. Die ersten Worte seines Liedes sind kaum gehört schon singen alle mit.
„Das Lieblingsstück aus der Hitparade“, brülle ich in das Ohr meines Begleiters.
Ich verstehe seine Antwort nicht. Es ist zu laut. Ich kann im Moment nichts unterscheiden. Da ist der Lärm, das Plastikhändeklatschen, die alles übertönende Musik, bis an die Schmerzgrenze. Und da ist dieses Lied, das sich augenblicklich in mir einen Platz erobert, im chinesischen Teil meines Herzens. Es ist ein Abend von Chinesen für Chinesen und für uns, für meinen Begleiter und mich. Ich habe heißen Tee bestellt, obwohl es hier drinnen sehr heiß ist. Die Kellner kommen ständig mit Teekesseln herum, um heißes Wasser nachzuschenken. Ein Abend mit Tee ohne Ende. Bis die Tänzerinnen in den goldenen Kostümen das letzte Bild gestalten werden.
„Halb so laut wäre es noch viel schöner gewesen“, seufzte ich, als wir das Musiktheater verließen und ich endlich die Lärmstop aus meinen Gehörgängen entfernte.
An diesem Abend spazierten wir noch lange am Westsee entlang, bis sich das Rauschen in meinen Ohren in Stille wandelte, um später im Rauschen der Blätter Ersatz zu finden. Wir hielten uns an den Händen den Mond betrachtend, der sich im Wasser spiegelte, sahen auf die kleinen Wellen, auf die Blätter der Lotosblumen, sahen unsere Gesichter hell im Mondlicht auf dem Wasser des Sees gespiegelt.
Von da an hörten wir jeden Abend die Musik bis in unser Hotelzimmer herüberschallen. Wir wohnten sehr zentral, direkt neben dem Hinterhof des Theaters. Jetzt erkannten wir immer, an welcher Stelle der Vorstellung man sich gerade befand.
Den Favoriten aus der Hitparade hatte ich seitdem angenehm in Erinnerung. Wir hörten den Song danach noch ein- oder zweimal. Jedes Mal gefiel er mir besser.
Jetzt waren wir hier auf dem Huangshan und ich war der Gelegenheit an diese Musik zu kommen so nahe wie noch nie auf dieser Reise. Ich ging auf eine der Verkäuferinnen in dem kleinen Laden zu, summte das Lied. Eigentlich kann ich gar nicht singen. Ich kann keinen Ton halten und höre nicht, ob es richtig oder falsch ist was ich singe. Jetzt aber war ich zuversichtlich. So schwierig konnte es doch nicht sein, diese einfache Melodie annähernd richtig zu summen. Es handelte sich um einen sehr populären Song und jeder kannte ihn. Mein Begleiter jedenfalls erkannte sofort was ich meinte. Bald waren wir von drei sehr netten, freundlichen jungen Frauen aus dem Laden umringt. Sie alle sprachen etwas englisch, was die schwierige Sache sehr erleichterte. Bald wussten sie von uns wie wir heißen, wo wir her kamen, wohin wir noch weiterreisen wollten, dass wir nicht verheiratet sind, keine Kinder haben, das China uns sehr gut gefiel und ich in der Forschung arbeite. Ihre Namen konnte ich mir in der kürze der Zeit bis auf einen nicht merken und vergaß die anderen leider bereits während unseres Gesprächs, ihre hübschen Gesichter nicht. Sie waren so ausgelassen, fröhlich und so guter Dinge.
Hinter dem Ladentisch in einer Nische saß Minn vor einem Computer. Mir schien es, als ob sie Lagerbestände überprüfte. Hier also war die Quelle ihrer Musik. Sie legte mal eine CD ein, mal lud sie einen Song aus dem Internet herunter. Ich summte. Minn lächelte freundlich. Sie legte eine neue CD ein. Ich schüttelte den Kopf, summte noch einmal und zeigte auf die Lautsprecherboxen draußen vor der Tür. Da war die Musik vorhin heraus gekommen, von da aus schallte das Lied über die Straße, erklärte ich ihr. Ich zeigte auf meine Armbanduhr. Um die Zeit hatten sie es gespielt. Ob sie sich erinnerte? Ich summte, Minn lächelte und nickte.
Wußte sie was ich meinte? Dann hatte ich eine neue Idee.
Ich würde das Lied noch einmal summen und sie könnte mir den Titel aufschreiben. Dann musste ich nur in ein Musikgeschäft gehen und kaufen, was sie mir aufgeschrieben hatte. Sofort holte ich einen Stift und einen kleinen Block, den ich für solche oder ähnliche Situationen im Urlaub stets bei mir trage, aus meiner Gürteltasche. Ich zeigte auf die Lautsprecher dann auf meine Uhr. Ich summte, klopfte die Melodie mit meinen Fingern auf den Tresen, bat sie, den Namen des Songs auf den Zettel zu schreiben.
„Aufschreiben! Ja, ja aufschreiben“, forderte ich sie auf.
Sie verstand mich und schrieb mir den Titel des Stücks auf. Ich flog direkt auf eine rosarote Wolke zu.
Geschafft! Der nächste Musikladen würde mich sofort  als eine neue Kundin begrüßen können. Wir bedankten uns und winkten ihnen zum Abschied durch das Ladenfenster zu. Den Zettel klebte ich noch am selben Abend in mein Reisetagebuch ein, das ich unterwegs immer schreibe. Hier war er bestens aufgehoben. Hier konnte er ganz bestimmt nicht verloren gehen. Am nächsten Tag fuhren wir in aller Frühe ab. Das kleine Geschäft hatte noch geschlossen. Gerne hätte ich ihnen Adieu gesagt.
      Es ging wieder zurückgekehrt nach Shanghai, der Stadt in der unsere Reise durch China begann. Sofort schmiedete ich Pläne für den kommenden Tag. Zum Bund wollten wir, zu dem berühmten Ufer am Huangpufluß. Danach in die Einkaufszentren. Was an oberster Stelle auf meinem Einkaufszettel stand, war eine CD mit dem das Lied, das mir seit unserem Abend in dem kleinen Gemischtwarenladen auf dem Huangshan erst recht nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. Leider hatten wir es danach nie wieder gehört. Nun würde ich endlich die CD kaufen können. Hier in Shanghai würde es kein Problem sein, eine bestimmte Musik zu bekommen. Wir waren in einer der größten Weltstädte unseres Erdballs, nicht auf dem Lande und nicht abseits in dem Bergen. Ich bringe mir sehr gerne Musik aus meinen Urlaubsländern mit und diese CD würde meine Sammlung um ein besonderes Stück bereichern. Ich stellte mir vor, wie ich sie zu Hause in den CD-Spieler einlegen, mich zurücklehnen und mich an unseren Urlaub und an die Show am Westsee zurückerinnern würde. Ich freute mich jetzt schon darauf.
Als wir zu einem der Einkaufzentren kamen, war die Sonne längst untergegangen. Die Läden hatten bis nach Mitternacht geöffnet, das war kein Problem. Mein Reisetagebuch steckte ich vorsorglich bereits am Morgen in meinen kleinen, schwarz-blauen Rucksack. Den Musikladen hörten wir schon lange bevor wir ihn sahen. Vorsichtig löste ich den Zettel vom Blatt in meinem Tagebuch ab, ohne die Seite allzu sehr zu beschädigen. Ich hielt ihn ganz fest, das Buch steckte ich in den Rucksack zurück. Ich ging in den Laden hinein. Ohne mich in den Regalen um  steuerte ich gleich auf einen der Verkäufer zu und zeigte ihm meinen Zettel. Er nahm ihn mir aus der Hand, hielt ihn ins Licht.
„Tut mir leid. Haben wir nicht“, sagte er.
Sein Englisch war perfekt. Ich fragte ihn, ob er mir einen Musikladen möglichst hier in der Nähe nennen könne, in dem ich die CD bekäme.
„Auf dem Zettel steht Lautsprecherbox“, sagte er freundlich.
„Auf dem Zettel steht Lautsprecherbox?" wiederholte ich ungläubig.
 Er nickte.


Sonntag, 2. Oktober 2011

Der Tanz der Dame



Der Tanz der Dame

Die Eifersucht schießt heiß in mir hoch. Dieser Wunsch dazugehören zu wollen, endlich einmal mit zu machen, füllt mein Inneres aus. Ich sehe sie alle vor mir die Schönen, als Paare über den Tanzboden gleiten und bin neidisch. Da ist dieses Gefühl, als zöge mich ein gewaltiger, nicht nachlassender Sog hin zu ihnen. Warum bin ich nicht dort? Am liebsten würde ich vom Sofa aus direkt durch den Fernseher springen, mitten hinein in den großen, hellerleuchteten Saal. Mir bleibt keine Zeit, ihnen weiter zuzuschauen. Ich mache den Fernseher aus. Ich muß gehen, habe eine Verabredung.
„Wie war Dein Tanzkurs?“
Wir sitzen in Nellis Lieblingscafé an einem der kleinen Bistrotische. Meine Tochter schwärmt von Cha-Cha-Cha und Rumba. Von dem Gefühl des Triumphes, den Momenten in denen es ihr geglückt ist, die Schrittfolge einer Figur richtig zu tanzen und dem Takt zu folgen bis zur Perfektion. Mir steigt die Röte ins Gesicht. Wie gerne würde ich mich begeistert anschließen. Für sie bin ich alt, nicht auszudenken, wenn sie mich mit in ihren Tanzkurs nähme. Ich bin ihre Mutter und längst dem Alter in dem man tanzen lernt entwachsen, wie sie meint. Wer soll mich denn auffordern? Ja, aufgefordert werden möchte ich. Das gehört dazu in einer Tanzschule. Da geht man nicht allein auf die Tanzfläche meine Dame, hier wartet man. Das ist hier keine Disco. Bei uns tanzt man als Paar zusammen. Aber ein ganz Junger mit einer Alten, lächerliche Rumba, alle würde uns anstarren.
‚Guck mal, die beiden.’
Getuschel.
„Vier Schläge pro Takt bei achtundzwanzig Takten pro Minute.“
Vielleicht käme ein Kurs für Menschen meines Alters in Frage? Da gehen nur Pärchen hin, was soll da eine alleinstehende, ältere Dame? Für eine solche Person bliebe nur der Eintänzer, wie unangenehm. Selbst eine Äußerung Nelli gegenüber jetzt, in diesem Moment:
„Ach, das würde mir auch Spaß machen“, kommt nicht in Fragen. Was soll sie denn antworten?
„Mama, das wär’ voll peinlich!“
Nellis Stimme holt mich zurück in das kleine Café. Ich winke der Kellnerin:
„Zahlen bitte.“
Wir verabschieden uns draußen, der Bus bringt mich nach Hause. Ich schließe die Wohnungstür auf, stelle die Schuhe neben die Matte, hänge den Mantel an die Garderobe. Mein Tanzbuch, nach dem ich Walzer- und Rumbaschritte übe, liegt geschlossen auf dem niedrigen Couchtisch. In einunddreißig Tagen tanzen lernen. Ich versuche es und scheitere immer wieder kläglich. Das Buch ist keine große Hilfe. Trotzdem schlage ich es auf, irgendwann muß es doch klappen. Grundschritt Rumba die Dame beginnt mit links. Es klingelt an meiner Wohnungstür, gleich dreimal. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir die nächtliche Stunde an. Wer kommt denn jetzt noch, so spät? Ich wage es, durch den Spion zu schauen. Im trüben Flurlicht sehe ich einen Mann. Vorsichtig öffne ich die Tür. Ein gutaussehender Herr im dunklen Anzug steht vor mir. Er trägt ein weißes Hemd und hat eine hübsche Krawatte umgebunden. Das Tanzbuch hält er mit der linken Hand an seine Brust gedrückt, da wo das Herz schlägt. Er verbeugt sich vollendet und fragt:
„Darf ich bitten?“
Mein Herz klopft wild bis zum Hals hinauf, ein tiefes Atemholen verhindernd. Mir zittern die Knie. Meine Gedanken stehen still. Unfähig etwas zu sagen bitte ich ihn mit einer Geste herein. Von irgendwo erklingt Musik. Wir tanzen den Flur entlang, das Wohnzimmer hinter uns lassend, durch die kleine Kammer und wieder zurück in den Flur.
„Wie heißen Sie?“ flüstere ich in sein Ohr.
„Buch“, sagte er.
“Herr Buch, es ist wundervoll mit Ihnen zu tanzen.“
„Deshalb bin ich ja hier“, erwidert er charmant.
Bin das noch ich, die Person, die unbeschwert leichten Fußes tanzt, wie hundert mal geübt?  Meine linke Hand liegt wie eine Feder auf der Schulter des Herrn, der Arm gedreht in die Richtung in die getanzt werden soll. Die andere Hand eben seinen Arm berührend, während er sanft, doch bestimmt führt. Zuerst ein langsamer Walzer, dann die Rumba. Die Schritte geschleift, nicht gesetzt, dem Rhythmus der Musik gehorchend, ohne Pause die Hüfte mitlaufen lassen. Das Licht, glitzernd von den Spiegeln, die die Wand bedecken, in den Raum zurückgestrahlt, es gehört mir. Wir wechseln von einem Rhythmus in den nächsten, als läge nichts dazwischen, als nur der unbeschwerte Leichtsinn dieses einen Moments, den es braucht für eine solche Änderung. Ich tanze, habe kein eigenes Tempo, die Musik leiht mir ihres aus.
Auf einmal macht mein Partner eine unerwartete Drehung und das Buch klappt zu. Es fällt mit einem halblauten ‚Plopp’ auf den Boden. Plötzlich bin ich müde, erschöpft und frisch zugleich vom Vergnügen zu tanzen.
Seit diesem Montag treffen wir uns jeden Abend, verbringen viele zertanzte Nächte miteinander. Am Tag sehe ich müde aus, in der Nacht bin ich eine andere, die Tanzpartnerin eines gewissen Herrn Buch. Meine Tochter Nelli sieht mich nur noch selten. Meine Freunde wundern sich, daß ich kaum noch zu ihren Einladungen komme.
Herr Buch und ich, wir werden immer kühner. Am Sonntag haben wir uns tagsüber unserem Tanzvergnügen hingegeben, es ist wundervoll gewesen. Im hellen Sonnenlicht schien der Flur größer zu sein als je zuvor. Wir haben uns ganz der Musik überlassen und ich habe die Welt vergessen. Heute ist allerdings etwas geschehen. Herr Buch hat mich gefragt, ob ich eine neue Richtung kennenlernen möchte. Es gibt noch so vieles was wir beide bisher nicht probierten. Er spricht von Techno, Hip-Hop und Breakdance. Ich habe ganz entschieden nein gesagt. So etwas liegt mir nicht. Sollen andere das tanzen. Das ist nicht mein Rhythmus. An diesem Abend kann ich lange nicht einschlafen. Halb wach, halb träumend falle ich durch die Linien auf denen die Noten gerade und aufrecht stehen, schwarz auf weiß, verstecke mich in der Melodie, aber Herr Buch findet mich überall. Er versucht mir einzureden, daß mir die modernen Tänze genauso viel Spaß machen, wie Lateinamerikanische. schweißnass wache ich auf. Ich brauche frische Luft.
Hier am See ist es herrlich. Eine sanfte Brise weht seidig matt herüber. Rosarot schickt die untergehende Sonne ihre Strahlen zu mir und bis in die Wolken hinein. Färbt sie ein, die ehemals Weißen, mildert das grelle Licht des Tages ab. Ich gehe weit hinaus auf den alten Bootssteg. Das Tanzbuch halten meine beiden Hände sehr gut fest. Hinter mir klingelt es. Ich lege das aufgeschlagene Buch auf die abgetretenen Planken. Ich drehe mich um. Herr Buch verneigt sich vollendet.
„Darf ich bitten?“
Wir tanzen Rumba. Langsam geht der Tag zu Ende. Mitten in einer Drehung macht Herr Buch plötzlich einen Schritt über den Steg hinaus. Für einen Moment tanzt er durch die Luft.  Ich bin wieder allein. Auf den alten, brauen Holzbrettern stehend, sehe ich ihn weit draußen auf dem See. Er sitzt auf den aufgeschlagenen Buchseiten wie auf einem Floß. Seine Arme und Beine machen wilde, zuckende Bewegungen in die Luft. Sein Kopf ruckt hin und her, einem unhörbaren Takt folgend. Er dreht sich schnell und immer schneller um sich selbst. Das dunkle Wasser des Sees unter ihm fließt ruhig dahin, die Wellen schlagen leise ans Ufer. Der See trägt meinen Kavalier auf dem Tanzbuch immer weiter fort von mir.

Samstag, 13. November 2010

Abschied

Der Zug fährt gleich ab
  Der Zug fährt gleich                
     Der Zug fährt

Zeit - ich rufe Dich


Zeit - ich rufe Dich

Nutze die Gegenwart
als Deine Verbündete.

Mache die Vergangenheit
zu geborstenem Glas.

Kämpfe gegen die Zukunft
der verschwundenen Tage.

Zeit - ich rufe Dich.

Laß Dich nicht bemessen.
Du bist zu kostbar.

Montag, 18. Oktober 2010

Morgen

Heut Nacht träumte mir,
ich wäre Du
und Du schriebst mir einen Brief.
Morgen werde ich Dir antworten.

Manche Tage

An machen Tagen
so ohne dich
wünsch ich mir
dein Klopfen an meiner Tür.
Ich öffne sie dann
ganz leise
probeweise sozusagen
an solchen Tagen ganz ohne dich.